Die Zeit existiert nur um zu verhindern, dass alles auf einmal passiert.
Meist hatte der alte Herr mit dem wirren Haar Recht. Die letzte Modedekade jedoch entzieht sich seinem Kommentar. Die Nullerjahre waren Zeitlos, denn alles passierte auf einmal. Kaum ein Jahrzehnt, das so viele Vergangene fasste. Sich seiner Trends und Stilmittel bediente, sie recycelte, modulierte und in die Moderne spie. Nur etwas glatter, neuer − besser? Das, wie auch alles sonst die letzten zehn Jahre, ist eine Frage des persönlichen Gusto. Denn natürlich gab es Trends. Unfassbare Massen von Trends. So viele Trends, dass man schon fast von einer Befreiung des Trends durch die Trendvielfalt sprechen könnte. Es ist komplex, die Nullerjahre modisch definieren zu wollen. Ein Kleiderschrank voller spaßiger Kostümchen − heute bin ich Garbo, morgen bin ich Techno. Deshalb, hier nur ein paar Schulterblicke:
Amerika, Anfang des Jahrtausends, besser L.A. Mit den Babes und Dudes fing alles an. Bling Bling und Britney Spears, die Erinnerungen rascheln billig. Wahrlich eine Bewegung, die es so noch nie gab. Pink und Gold und Strass; Tangas und Bäuche und Piercings in Bäuchen. Dicke Labels überall. Entweder man nimmt all das zusammen mit den eigenen Zahnspangenfotos und etwas Selbstironie hin, oder ergibt sich in Scham. Fakt ist, die Mode wird weiter demokratisiert. Es sind nicht mehr nur eine Handvoll schwuler Männer in Paris und Mailand, die bestimmen was getragen wird − Popstars sind die neuen Branchengrößen und wir wählen sie mit unseren Plattenkäufen. Quasi selber Schuld.
Ein bisschen Atmungsaktiver und gut für unseren Geldbeutel: Boho, Vintage, Sienna Miller, Kate Moss. Mit diesen vier Zauberworten kannst du ALLES auf eBay verkaufen. Schwingende Blümchenkleider, Slouch-Stiefel und Jesuslatschen. Pastellfarben, Spitzenborten und Festivals. Mixtapes tauschen, Roadtrips und Grasflecken machen und aus versehen im Park schlafen. Jeden Sommer kommt alles wieder hoch.
Jedes Hippiemädchen will einen Rockstar-Freund haben. Also ziehen sich die Männer wieder enge Hosen an. Echt enge Hosen. Und Lederjacken. Und spitze Schuhe, Herrenschuhe. Das hätten Sie selber vor 2 Jahren auch noch nicht für möglich gehalten. Aber dieses Britpop-Dandy-Ding funktioniert auch ganz gut bei Arbeitgebern und Omas, und Mädels halt. Alle Beteiligten sind zufrieden. Nur die Männer vielleicht nicht so, die sind jetzt auf Diät.
Selten hat ein Jahrzehnt ein anderes so geliebt, wie die Nullerjahre die Achziger geliebt haben. American Apparel ist Titten auf Toast, alles andere ist Vollplastik und Neon. Nu’Rave verleitet dazu von allem ein bisschen zu viel zu machen, vor allem aber zu wenig zu schlafen. Die Farbe Lila, schwarzes Leder, Pailletten und Schulterpolster und alles alles strecht. Balmain und Marc Jacobs sind fleißige Reformer und man muss gestehen, ganz so schlimm wie vor 30 Jahren sieht das gar nicht mehr aus. So richtig geil, aber eigentlich auch nicht.
Wie auch diese ganze Nerdnummer. Es geht um Mut zur Hässlichkeit. Wer die krasseste Hornbrille und das deformierteste Katzensweatshirt hat gewinnt. Zöpfe finden jetzt prinzipiell oben oder seitlich am Kopf und in Knubbeln statt. Ansonsten geht alles. Mode-Anarchie! Der Flohmarkt ist jetzt nicht mehr nur der billigste, sondern vor allem der einzige Weg zum authentischen Outfit. Der Sartorialist als moderner Mode-Anthropologe.
Text Nathini van der Meer
Illustrationen Corinna Dehn
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Nathini van der Meer
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