Andere werden langsam wahnsinnig, ich schnell. Das letzte Gespräch ließ viele Fragen offen, doch eines steht fest: Wir werden uns nicht mehr sehen. Mein Handy, ein Relikt, das auf der Funkausstellung zusammen mit dem Farbfernsehen vorgestellt wurde, hat mir zuliebe schon eine Selbstschutzfunktion entwickelt. Verpasste Anrufe werden gar nicht erst angezeigt. Das blaue Netzwerkmonster lässt mich aber nicht allein mit meiner Herzscheiße und zeigt mir ständig ihre neuen „Freunde“. Auf den Profilbildern wirken die so, als würden sie vor der Arbeit in der Werbeagentur noch mal eben schnell irgendwo Windsurfen gehen. Die letzten Sachen habe ich, unter den peinlich berührten Blicken der Mitbewohner, in einem Wäschekorb vor ihrer Zimmertür abgestellt. Sowas nennt man dann wohl den „letzten Akt“. Wäre ich ein Fernsehsender, würde bei mir permanent eine Spendenkontonummer durch das Bild laufen.
Alle sagen, dass es vorbei geht und dass überhaupt alles nicht so schlimm sei. Jaja. Ich sage: Vielleicht sollte ich mal wieder in eine Kneipe gehen! Sofort. Heute Abend. Kein selbst ernannter Szeneladen mit unverputzten Wänden, Koks auf den Toilettenablagen und Mojito für 8,50, sondern eine ehrliche, leicht zweifelhafte Trinkstätte.
Der vorprogrammierte Absturz meiner Wahl heißt „Bierhaus Urban“, befindet sich keine Kippenlänge von meiner Wohnung entfernt und hat seit 25 Jahren geöffnet. Durchgängig. Das muss man sich mal vorstellen! Alles, was in der letzten Dekade passiert ist, wurde hier zwischen zwei Pils und drei Kurzen irgendwie so durchgewunken. Maueröffnung, 9.11., Fußballweltmeisterschaften. Wer hier herkommt, dem ist Vieles ziemlich egal. Diese zur Schau getragene Unaufgeregtheit und die Aussicht auf eine hemmungslose Jukebox-Session lassen mich auf einen guten Abend hoffen. Joe Cocker, Grönemeyer und Rick Astley – gerne auch in dieser Reihenfolge. Das Bier ist dasselbe wie woanders auch.
Als Alleintrinkender ist die Platzwahl an der Theke elementar wichtig, denn sie entscheidet über die nächsten Stunden. Ich nehme auf einem modrigen Barhocker neben einem Mann Platz, der so aussieht als würde er Bernd heißen und die Nase voll hat von allem. Bernd trinkt Cognac, raucht Pall Mall ohne Filter und trägt eine speckige Taxifahrer-Lederjacke. Sein Bauch wallt sich wie ein unaufgepumpter Medizinball über den Hüftansatz seiner Bundfaltenhose. Bernd sieht so aus, wie ich mich fühle.
Am Tresenende erkenne ich durch die Rauchschwaden noch eine weitere Schicksalsgemeinschaft. Zwei Männer, Typ Umzugshelfer oder frisch aus dem Knast entlassen, und eine rotwangige, matronenhafte Blondine mittleren Alters, deren dunkles Geheimnis ich nicht wissen möchte. Am Ende landen alle hier denke ich und bestelle ein Hefeweizen. Eigentlich finde ich Hefeweizen schrecklich, schon alleine wegen des Glases. Dieser sperrige Alkohol-Pokal sieht bescheuert aus und kann nur in bayrischen Biergärten ungestraft getrunken werden. Aber irgendwas muss sich ja ändern in meinem Leben! Gerne würde ich mich jetzt betrinken, aber Lust dazu habe ich nicht, nur dumpfe, karge Scheißgefühle, ganz langsam breiten die sich aus, gemischt mit Angst vor dem unangeleinten Hund, der vor dem Eingang zu den Toiletten sitzt, dem Finanzamt, meiner Telefonrechnung, dem heillosen Wäschechaos in meiner Wohnung, der ganzen Welt eigentlich. Fatalistisches Betrinken geht wohl anders.
Nach einer gefühlten Ewigkeit des wortlosen in-mich-hinein-Denkens stehe ich auf und gehe zur Jukebox. Für mein Empfinden läuft hier gerade ein mehrstündiges Queenstück gesungen von Claus Kleber und zumindest das kann ich ändern. Ich versuche mein Glück im Ordner der „200 besten Rocksongs aller Zeiten“. Musikalisch eine Gräueltat und aus ästhetischen Gesichtspunkten in einem Regal mit Bademänteln von Tchibo. Egal, „Summer of 69“ geht immer. Damit wurden zu meiner aktiven Fußballzeit immerhin ganze Weihnachtsfeiern bestritten und mit Besenstielen bewaffnet Luftgitarre auf der Theke gespielt.
Bei den ersten Zeilen des Gassenhauers erkenne ich, wie Bernd den Text schwankend in sich hinein murmelt und die Bardame anerkennend nickt. Peaktime im Bierhaus Urban. In der Panoramabar wäre jetzt der Moment gekommen, wo sich die Jalousien öffnen und sich vorher unbekannte Menschen in den Armen liegen. Zeit zu gehen. Ich bezahle lächelnd, und noch bevor der kanadische Weichspüler zum finalen Solo ansetzt, bin ich verschwunden. Ich fühle mich ein bisschen besser als scheiße und verbuche den heutigen Abend als Gewinn auf meinem Karmakonto. Plötzlich klingelt das Handy. Meine Gedanken machen schlagartig einen U-Turn bei voller Fahrt in den Gegenverkehr. Sie ist es nicht, doch ich bin erleichtert. Wenn man mal wieder mit seinen Eltern telefoniert, weiß man, wo der Wahnsinn wirklich zuhause ist.
Daniel Penk! Peng!
Grafik: Vinzent Britz & Martin Köhler
Daniel Penk
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