Jede Nacht riskieren Sprayer in den Straßen dieser Stadt viel mehr als du denkst. proud erklärt, warum.
§ 303 Sachbeschädigung
(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.
(3) Der Versuch ist strafbla bla bla…
Sachbeschädigung.
Dieser kleine Fetzen Beamtendeutsch blitzt immer wieder auf, wenn Nacht für Nacht Künstler dieser Stadt ihre Taschen packen. Er ist der Grund, warum man an den Boden der Dosen kleine Magnete klebt. Sie halten die Kugel in der Kanne fest und unterdrücken das verräterische „Klack-Klack-Klack“ Geräusch, das in einer menschenleeren Straße die Lautstärke eines englischen Hooligans zu haben scheint. Was lässt man sich nicht alles für einen Quatsch einfallen, um ja nicht gefickt zu werden. Man zieht sich orange Warnwesten an und kleistert wie selbstverständlich die Wand zu. Man schneidet den Boden aus Pizza-Kartons und klebt stattdessen eine Schablone rein, um irgendwo zwischen James Bond und Mr. Bean ganz beiläufig eine Mauer zu besprühen. Immer wieder geht man mögliche Fluchtwege im Kopf durch, um dann trotzdem beim kleinsten Geräusch zusammenzuzucken. Warum?
Um ja nicht erwischt zu werden. Denn das Problem mit dem Erwischt werden beschränkt sich nicht auf ein mögliches Verfahren, auf Reinigungskosten, Sozialstunden oder Hausdurchsuchungen, obwohl das nicht unterschätzt werden darf. Einen besprühten Waggon wieder „sauber“ zu kriegen kostet einige zehntausend Euro und da die Ansprüche nicht verfallen, haben sich auf diese Weise schon einige Kids bis in’s Rentenalter ruiniert. Für die meisten Künstler wiegt ein anderer Punkt viel schwerer: Der Verlust der eigenen Identität. Einer der faszinierendsten Aspekte am Sprayen ist die paradoxe Verbindung von Bekanntheit und Unbekanntheit. Ein Tag kann stadtbekannt sein und die Person dahinter trotzdem anonym bleiben. Man schiebt eine neue Identität vor die eigene Persönlichkeit, eine Identität die nur auf Mauern lebt, und umgeht damit elegant die stetige Forderung der Gesellschaft zur Selbstdarstellung. Die Künstler verbringen viel Zeit damit, ihr Tag (weiter-) zu entwickeln und machen sich buchstäblich Stück für Stück einen Namen in der Stadt. Doch in der Sekunde, in der das grelle Licht einer Polizeitaschenlampe vom frischen Piece an der Wand auf den eigenen Personalausweis wandert, verschwindet die Grenze zwischen den beiden Identitäten, und die Künstler müssen ihren Namen beerdigen. Berlin hat die bundesweit größte SOKO Graffiti, und diese Sonderkommission hat das streetsbeste Blackbook der Stadt. Viele neue Arbeiten werden hier dokumentiert, und wer Pech hat, erhält über dieses Buch die Quittung für seine gesamte Karriere. Wer also nachts mit einem Rucksack voller Dosen um die Häuser schleicht riskiert mehr als bloß ewige Verschuldung. Er riskiert seinen Namen, seine kreative Identität. Und mit jeder erfolgreichen Mission wird die nächste nur noch riskanter.
Also wozu der ganze Zirkus? Warum der ganze Tanz? Wieso riskiert man für ein paar Farbkleckse jahrelang pleite zu sein?
Die Frage zielt auf die Seele von Street Art und Graffiti. Es ist die Frage nach der Motivation, die unbescholtene Bürger nachts aus ihren Häusern auf die Straßen treibt. Die Antwort sieht für jeden Künstler anders aus, doch gibt es Schnittmengen, die sogar Kings und Toys verbinden. Denn urbane Kunst ist immer ein Kommentar über die Umwelt, in der sie geschaffen wird. Christian Rothenhagen, der als deerBLN seine Kunst an Wände klebt, fasst seine Intention sehr prägnant zusammen: „Ich möchte die Welt zu einem schöneren Ort machen.“ Damit beschreibt er den Perspektivwechsel, den wohl jeder kreative Mensch irgendwann mal vollzogen hat: Vom Beobachter zum Gestalter. Aber ist der kreative Drang bei allen so stark, dass sie Zeit, Geld und Eier investieren, um ihre Umwelt zu verschönern? Herb, Künstler aus Perth, beschreibt seine Motivation wesentlich politischer: „I hope to make a difference to the way people think. And, coming from an advertising background, with the trash out there trying to sell shit to people who don‘t need it, for profit, it is also extremely refreshing. The risk and the punishment are its own reward.” Letzten Endes ist jede Form von urbaner Kunst schon dadurch politisch, dass sie illegal ist und damit in Kontrast zu den legalen Impulsen steht, die jeden Tag um unsere Aufmerksamkeit kämpfen: Werbung. Ironischerweise arbeiten viele Street Artists tagsüber in der sogenannten „Kreativbranche“. Sie sind Grafiker, Werbetexter, Mediengestalter oder Designer. Für viele von ihnen ist Street Art ein Ventil, um nach ihrem Handwerk der Inszenierung authentische Kunst zu schaffen. Das ginge aber auch genauso gut auf legalem Wege. Also warum der ganze Stress?
Für Paul, Undenk-Mitglied aus Köln, ist der ganze Stress genau der Punkt: „Das Katz und Maus Spiel ist mindestens der halbe Spaß.“ Damit spricht er das Suchtpotential von Street Art und Graffiti an. Jeder, der mal mit ein paar Dosen durch die Nacht geschlichen ist, wird bestätigen können, dass es nur wenige Erfahrungen gibt, die so intensiv sind wie der konstante Adrenalin-Kick und der folgende, paradiesische Come- Down. Dieses natürliche High schlägt locker jede Berghain-Pille und zwingt einen wieder und wieder auf die Straße. Aber wenn es um Adrenalin geht, warum nicht Basejumpen oder U-Bahn- Surfen? Würde nicht mehr Risiko mehr Kick versprechen? Wenn das Katz und Maus Spiel die eine Hälfte ist, was ist die andere?
Ramon, Writer und Street Artist, trifft den Nagel auf den Kopf: „Das hier ist meine Welt, genau wie es deine ist. Es ist nicht die von Nestlé und Nike.“ Street Art und Graffiti sind mehr als eine Kunstform, sie sind eine Protestform. Wer eine öffentliche Wand bemalt, egal ob mit dem hässlichsten Tag oder dem kompliziertesten Multi-Layer Stencil, bricht eine Regel und gibt damit ein Statement ab. Er widerspricht. Er widerspricht einem Staat, der diesen Kommentar verbietet, und einer Gesellschaft, die es dem Kapital erlaubt, jedes ihrer Mitglieder mit über 3000 Werbebotschaften pro Tag zu bombardieren. Jeder urbane Künstler beansprucht einen Teil des urbanen Raums für sich, ohne jemanden vorher um Erlaubnis zu bitten. Damit erobert er ein Gebiet zurück, das schon längst stillschweigend zwischen depri-grau und funkel-bunt aufgeteilt wurde. Das Risiko, die Illegalität, das Medium ist hier die Message. Der reine Akt der kreativen „Sachbeschädigung“ ist unabhängig vom Inhalt schon ein Einspruch gegen die bestehende Ordnung.
Risiko und Illegalität sind integrale Bestandteile der urbanen Kunst. So sehr, dass sie ihr erst Kontext und Relevanz verleihen. Die Frage nach dem Risiko beantwortet sich selbst: Man tut etwas Illegales, um etwas Illegales zu tun. Warum? Sie haben die Macht. Doch wir haben die Nacht
Text Lukas Kampfmann
Layout Marta Slawinska
Lukas Kampfmann
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