Soberdose – Stechapfel Panik

von Miron Tenenberg


Allein die Dosis macht das Gift. proud überprüft, ob Paracelsus mit diesem Satz Recht hat und testet Alltägliches auf unerwartete Eigenschaften. Nennt uns Eure Hausmittel und Miron sagt Euch, was sie bringen: miron@proudmagazine.de

In Zehlendorf höre ich das erste Mal vom Stechapfel: Auf der Liegewiese an der Krummen Lanke findet eine ausgedehnte Abiturienten-Feier statt. Es wird getrunken, herumgemacht und irgendeiner kommt auf die Idee, Stechapfel zu nehmen. Kurz darauf sitzt er geistesabwesend herum und entschließt sich, plötzlich mit erstaunlichem Nachdruck, seine Hand zu schälen. Er beginnt sich die Haut seiner Faust einzuritzen und diese wie eine Orange abzuziehen. Das Ende der Geschichte ist ungewiss, der Wahrheitsgehalt übrigens auch. Es handelt sich nämlich um einen Bekannten des älteren Bruders eines Schulfreundes aus Zehlendorf – Urban Legends.

Diese werden ja immer nur von Leuten im minimal dritten Bekanntheitsgrades bestätigt und wirken so unglaublich, jedoch unter seltsamen Umständen wieder möglich, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft. Was muss im Kopf einer Person vorgehen, dass diese voll Überzeugung denkt, eine Orange zu pellen und sich dabei selbst verstümmelt? Urban Legends lieben offene Fragen.

Meine erste tatsächliche Begegnung mit dem Stechapfel findet viel später in Ungarn statt. Ich bin auf einer Weiterbildung in Sachen Natur- und Heilpflanzen, inmitten eines Gartens voll – wer hätte es gedacht – Natur- und Heilpflanzen. Wie im Garten Eden blüht und riecht es überall üppig nach gesättigter Natur. Uns wird mitgeteilt, dass jede einzelne Pflanze eine Verwendung hat. Ein Garten voll Nutz- pflanzen. Unmengen davon werden von zwei Reiki-Meistern in einem riesigen Kessel über den Tag ausgekocht. Wir bleiben alle nüchtern, essen maximal ein trockenes Stück Toastbrot und vertreiben uns den schönen sonnigen Tag.

Am Nachmittag wird der trübe Zaubertrank abgeseiht und getrunken. Da der aber so bitter und widerwärtig schmeckt, wird er von den meisten innerhalb der nächsten halben Stunde ausgebrochen. Domino Open, der Erste beginnt sich zu übergeben und zieht zwei weitere mit sich. Die Fontänen sprühen nur so durch den Garten. Ich rette mich ins Haus, weigere mich in diesem Punkt dazu zu gehören und lasse mir von einem der Betreuer erklären, dass so etwas völlig normal wäre und sich der Rausch dieser Tränke dadurch erst richtig entfalten kann. Trotzdem lenke ich mich ab, bis die Übelkeit vergeht. Irgendwann beginnt der sanfte Flug und wird von kleinen und großen Ritualen begleitet. Unter anderem das gemeinsame Rauchen einer Friedenspfeife voll getrockneter Blätter und Blüten des Stechapfels.

Ich lerne den Namen Zombiegurke dafür kennen und werde belehrt, dass es drei Arten des üblichen Konsums gibt: Das Rauchen, das Essen und Trinken des Aufgusses. Davon ist das Rauchen das harmloseste, mild im Rausch und angenehm im Geschmack. Gegessen soll es durchaus sehr halluzinogen wirken und aufgegossen ist es der Albtraum.

Natürlich entscheide ich mich für das Rauchen. Als Nichtraucher ist man ja stets auf der Suche nach Alternativen, zumal Tabak ja auch so schädlich sein soll. Nach einiger Zeit fällt mir auf, dass das Kratzen im Hals, die pelzige Zunge und die rote Kehle vielleicht vom Stechapfel herrührt. Bin ich dagegen allergisch? Kann ich meinen Arzt fragen, ob er mich auf eine eventuelle Allergie gegen den Stechapfel testet? Immerhin ist der Ruf des zauberhaft schönen Gewächses als Rauschmittel ziemlich desaströs. Ich entscheide mich dagegen. Was hätte ich denn sagen sollen? Ich rauche einfach gerne Datura stramonium, da mich die berauschende Wirkung eher leicht, dabei friedvoll beruhigend beeinflusst, der Geschmack jedoch angenehm frisch, doch herb ist, ohne in der Geschmacksassoziation an Biorauchware zu erinnern.

Aber diese Allergie! Schade um das Raucherlebnis.

In den Nachrichten ist der Stechapfel in seinen Extremen vertreten. Da läuft ein Junge durch das Wohnzimmer an seinen Eltern vorbei. Er möchte zum Geräteschuppen, der im Garten steht. Kurz darauf schneidet er sich seine Zunge und seinen Penis mit der Gartenschere ab. Kurz zuvor gab es Stechapfeltee, das Ticket ins Albtraumland, in dem man auch mal seine Mutter tötet, sich aus dem Fenster schmeißt und querschnittsgelähmt sowie geistig hängen geblieben weiterlebt. Urban Legends lieben offene Fragen. Drogen- geschichten lieben geschlossene Anstalten.

So weit lass ich es aber nicht kommen. Ich bin ja nicht verrückt und will es auch auf gar keinen Fall werden. Erstens würdet Ihr sonst diese Kolumne hier nicht lesen können und zweitens hat mich das Schreiben dieser Soberdose auf die Idee gebracht, den Stechapfel doch einfach mal zu essen. Dafür warte ich zwar noch auf die warmen Sommermonate, da ich bei eventuellen Bewegungsdrang keine Lust habe, mich dick anziehen zu müssen. Vielleicht findet Ihr mich in einem halben Jahr in Gespräche vertieft mit meinen imaginären Freunden an der Krummen Lanke und Orangen essen.

Erfahrende und vertrauensvolle Drugsitter können sich also gerne bei mir melden. Ich hätte da so eine Idee!

Text Miron Tenenberg

Grafik Vinzent Britz


Miron Tenenberg

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