Allein die Dosis macht das Gift. proud überprüft, ob Paracelsus mit diesem Satz Recht hatte und testet Alltägliches auf unerwartete Eigenschaften. Nennt mir Eure Hausmittel und ich sage Euch, was sie bringen: miron@proudmagazine.de
Es gibt nicht viele Sachen, die wir lebendig essen. Aus China habe ich zum Beispiel von Affenhirnen gehört. Den Affen soll bei lebendigem Leib die Schädeldecke entfernt oder aufgebrochen werden, um danach das noch warme Gehirn aus dem Kopf löffeln zu können. Im Netz finden sich diese Schocker meist auf militanten Tierschutzseiten. Ich glaube aber stark, dass es eine Urban Legend ist. In Korea wiederum ist lebender Tintenfisch auf manchen Speisekarten zu finden. Potenz und Stärke bringe es, die auf Stäbchen aufgewickelten Weichtiere zu essen. Das Schwierigste daran wäre aber das Hinunterschlucken der Tentakel, da diese sich mit den Saugnäpfen an Zunge und Rachen heften. In Deutschland hingegen gibt es solche Probleme nicht. Wir töten alles vor dem Verzehr. Hier wird höchsten mit drehenden Joghurt-Kulturen geworben. Und dann gibt es Austern.
Austern sind in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes. Eine geöffnete Auster sieht – ein bestimmter Blickwinkel vorausgesetzt – nämlich aus, wie ein weiches, weiß-gräuliches Etwas mit blassen, glitschigen Schamlippen. Aber es bleibt nicht alleine bei der optisch-sexuellen Konnotation, Austern wird ebenfalls eine aphrodisierende Wirkung zugesprochen, was wiederum zu Champagner passt. Wer dieser Folgerung folgen kann und vor allem folgt, wird sehen, dass Champagner sogar der perfekte Begleiter zu Austern ist. Und Champagner, das wissen wir ja alle, ist nunmal das Getränk der Berliner Straße. Kein Wunder also, dass Austernessen eine lange West-Berliner Tradition besitzt. Austern und Champagner in der Austernbar im KaDeWe. Als Carry Bradshaw sich noch für bedruckte T-Shirts interessierte, wurde hier bereits darüber gesprochen wer in der Stadt was mit wem und wie lange gemacht hat. Jeden Sonnabend findet sich hier noch der leicht speckige Geldadel des Westens und zeigt was es zu zeigen gibt. Bei dem Gedanken an die Austernbar in der sechsten Etage erinnere ich mich aber eher an die sexuelle Wirkung der Muscheln.
Eine wilde Veranstaltung findet in Berlin statt und führt auch am Tauentzien entlang. Ich finde mich, an der Austernbar stehend, Sylter Royal und Veuve schlürfend. Die Zeit hält an. Mit der Anzahl der leeren Muschelschalen und frischen 0,1-Gläsern steigt die Spannung in Brust und Lende. Meinen Blick bekomme ich langsam aber stetig nicht mehr gebändigt. Ich glotze und bin mir dessen bewusst. Ich glotze, bin völlig von Gier übermannt und fange an Leute auszuchecken über die ich, bei Weiterführung der Gedanken, eine eigene Soberdose hätte schreiben können. Zum Glück muss ich auf die Toilette und kann meine Gedanken kurz ablenken. Dort wartet bereits eine Traube Menschen auf Einlass, größtenteils Leute von der Parade. Es herrscht ein triebsames Gedrängel und Aneinander / Miteinander und in diesem Moment platzt der Geysier der Hormone aus mir heraus. Ich lasse mich treiben, wobei mein Blick an einer großgewachsenen Frau hängen bleibt. Lange, schlanke Beine und ein wunderbar geformter Körper über einem herrlichen Arsch. Grazile Bewegungen wehen ihre langen Haare stilvoll über die traumhaften Schultern. Als sie meinen Blick bemerkt schaut sie verlegen auf das Damen-Zeichen der Toilette und haucht mir mit Männerstimme entgegen, dass sie natürlich dort hineingehen würde. Ich bin ohnehin schon verloren und gehe einfach noch verlorener.
Die aphrodisierende Wirkung von Austern ist für mich also bewiesen. Esst Austern in Mengen beim nächsten Rendezvous. Sie verschaffen Euch mindestens ein verlegenes Lächeln beim ersten Blick in die geöffnete Muschel, sind gefühlsbetont in der Darreichungsform und vulgär in der Konsistenz, bevor der Geysier in den Geist und aus dem Körper schießt. Wichtig: Denkt an Zitrone oder Tabasco, falls Ihr nicht so auf Meerwasser- geschmack steht, dazu ein wenig Weißbrot und natürlich Champagner. Mehr soll nicht, mehr darf nicht. Manchmal muss es eben auch ohne große Auswahl gehen! Dennoch habe ich in diesem Sommer ein weiteres Kriterium für den Genuss von Austern kennen gelernt. Es gab große Austern, dicke Austern.
In der ländlichen Austern-Espresso-Bar im Westen der USA werden eigentlich nur Austern zum Mitnehmen verkauft. Da ich aber nur ein Schweizer- messer und kein Austernmesser dabei habe, frage ich höflich, ob ich vielleicht eine einzelne kaufen könne. Ich will erst schauen, ob ich diese auch so öffnen könne. Ich bekomme zwei Austern geschenkt und probiere es. Mit ein wenig Geschick und Kraft gelingt es mir und ich schlürfe die Auster ohne Tabasco, Zitrone und Champagner aus der Schale. Einfach schnell in den Mund bekommen. Wie ein japanisches Kokosbällchen füllt die Auster meinen Mund aus. Bis zum Anschlag kalt und fischig. Mit ausgefüllten Backen wird mir bewusst, dass die Auster ja noch lebt . Ein lebendes Tier in meinem Mund. Es fühlt sich an als hätte ich einen Hund im Mund. Ich beiße darauf und mir wird bei jedem meiner langsamen Bissen klar, wie ich gerade die Auster töte. ‘Ich töte gerade das Tier in meinem Mund’ hallt mir durch den Kopf. Mittlerweile kaue ich auf einem Berg weicher, schlabbrigen, bleichen Masse. Wer es in den Mund nimmt, hat gefälligst zu schlucken. Ich bin ja gut erzogen und schlucke den Eiweißschleim hinunter. Ich entscheide mich daher für die kleineren Austern zum Mitnehmen. Die große, Dicke liegt mir noch eine Weile im Rachen und das Gefühl, das unmittelbare Tor des Todes für ein Lebewesen gewesen zu sein, lässt mich nicht mehr los. Ich bin ohnehin schon verloren und gehe einfach noch verlorener.
Genießt die Monate, die ein R im Namen tragen!
Text Miron Tenenberg
Miron Tenenberg
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