Schuhe Autos und Titten

von Paul Solbach


Das Internet ist ein erstaunliches Gruselkabinett. Wir brühen uns einen frischen Kaffee und werfen erstmal die Kiste an. Während wir uns vorsichtig durch die Blogs tasten, flimmern Skurrilitäten über den Schirm und nötigen uns den nächsten Klick ab. Titten, Schuhe, dunkler Dekor, Kunst aus der Nische, Hippies am Küchentisch, getaucht in kodachromatische Farbpaletten. Schwachsinn und Faszination. Unwiderstehlich. Sollten wir uns dafür ohrfeigen, jeden morgen aufs neue diesem Rausch der Bilder zu erliegen? Wohl kaum.

Besonders die neuerliche Gattung der Bilderblogs zeigt eine Flut von kommentarlos aneinandergereiten Fundstücken und erlaubt es den Nutzern, eine eigene verfeinerte Auswahl zu treffen. Dabei ist für jeden Geschmack und Fetisch etwas dabei. Wer ein wenig mit Stichwörtern herumprobiert, findet den persönlichen Special Interest reichlich bebildert. Pornografische Amateuraufnahmen mit der Polaroidkamera, bitte. Aus den achtziger Jahren. Die Antwort heißt Pornaloid. Seelentieftauchen mit Rorschachbildern? Kunststück. Langweilig.

Als der amerikanische Programmierer David Karp 2005 auf den anarchischen Blog des Münchner Schülers Chris Neuenkirchen stößt, beschließt er, das Prinzip Durcheinander zur Tugend zu erheben und gründet tumblr.com. Neuenkirchen stellte einfach alles per Querverweis online, was ihm unter die Finger kam. Zwischendurch bloggte er über formvollendete Quelltexte und seine weihnachtliche Einkaufsliste. „The internet probably is the closest thing to working anarchy mankind ever had.“, sagt Neuenkirchen.

Abgeleitet aus dem englischen „to tumble“, was soviel heißt wie würfeln, erhielt damit ein Kulturphänomen in das Netz Einzug, das auf der Straße geboren wurde – die grenzenlose Vermischung von Stil und Form. Im Jargon der Kunstinteressierten würde der Begriff Eklektizismus passen, der im Kunstduden folgendermaßen definiert ist: Ein Rückgriff auf älteres Gedankengut oder bereits dagewesene künstlerische Ausdrucksformen. Eklektizistische Elemente sind in der Kunst oft zu finden und müssen nicht unbedingt einen Mangel an eigenen Einfällen bedeuten, sondern spiegeln häufig den Ausdruck des Zeitgeistes wider. Mit dem Begriff eng verbunden sind die bewussten Rückgriffe der Renaissance auf die Gestaltungsformen der Antike oder die Stilformen des Historismus.

Mustergültige Beispiele der kreativen Stimulanz solcher Würfelblogs sind etwa fffound oder die von Jakob Klein betriebene Seite hawlin. Klein präsentiert hier seine täglich erweiterte Bilderkiste und betitelt das ganze lapidar mit „Mood“. Models, Anzeigen, Objekte, Trompe-l’oeils, Celebrities, Räume, Grafikbroschüren, Ausstellungsplakate aus verschiedenen Epochen reihen sich hier endlos aneinander. Ein wunderbares popkulturelles Chaos. Ermöglicht durch das im Hintergrund nachladende Contentsystem von Cargo reißt der Bilderstrom niemals ab, der Schiebebalken kann den unteren Bildschirmrand nicht erreichen. Lästerer würden sagen, dass die wilde Sammelei von Querverweisen jeder Art auch den letzten Rest journalistischen Anspruchs in der Blogosphäre erstickt habe. Oftmals sind die Quellen nicht nachvollziehbar. Allerdings ist das sogenannte Microblogging, also die oftmals bloße Zusammenstellung fremder Beiträge nur bedingt zur Selbstdarstellung geeignet und damit ein Gegenentwurf zur teils narzisstischen Welt des Social Networks.

Außerdem ist die Kommentarlosigkeit der zusammengewürfelten Bilderströme angemessen. Sogar verdiente Hochschuldozenten kapitulieren vor der Aufgabe, das derzeitige Überangebot ästhetischer Eindrücke aus Film, Design, Lifestyle und digitaler Kunst sinnvoll zu sortieren. Oder es werden halbherzige Versuche unternommen, wie unlängst in einer kunstgeschichtlichen Vorlesung an der Berliner Humboldt-Universität. Thema der Vorlesung, die Geschichte des Designs. In aller Knäppe werden Bilder abgespult, ähnlich der Machart eines aktuellen Tumblelogs. Das architektonische Erbe Frank Lloys Wrights wird auf dessen horizontale Linienführung herunter- gebrochen. Dogmen und Sinnhaftigkeit skandinavischer Gestaltungstradition sind in zwei Minuten durch. Immer wieder ist die Differenzierung mit den Attributen ornamenthaft oder minimal getan.

An anderer Stelle bewies uns eine Koryphäe auf dem Gebiet der Ikonographie die Suggestivkraft des bewegten Bildes. Einziges Problem dabei war die Wahl des Beweisstücks. Weder kannte der Professor den Begriff „Mockumentary“, noch ließ er sich davon überzeugen, dass der von ihm gezeigte französische Dokumentarfilm „Dark Side of the Moon“ über die Studioaufnahmen der amerikanischen Mondlandung unter Beihilfe Stanley Kubricks ein Witz sei.

Wann und vor allem durch wen sollten Bilder überhaupt noch kommentiert werden? Am besten gar nicht. Die Generation der sogenannten Digital Natives hat längst entschieden, dass Jugendkultur nicht länger mit der Reproduktion von Stereotypen zufrieden ist. Anders gesagt, es ist ein sinnloses Unterfangen, das feine Identitätsgefüge der Digital Natives aufzuschlüsseln. Everything goes. Siehe tumblr.Es lässt sich bestens über die Langzeitwirkung der Bilderflut spekulieren. Zweifelsohne wird der optischen Sinneswahrnehmung eine Menge abverlangt. Während unser Repertoire an Gerüchen und Geschmäckern eigentlich konstant bleibt, steht das Auge täglich vor neuen Herausforderungen.

Im Gehirn passiert dabei nichts anderes, als eine ständige Neuverkabelung von Begriffen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts erklärte der Biologe und Sozialforscher Richard Bucke genau diese ständige begriffliche Abstraktion zur treibenden Kraft auf dem Weg zu einer neuen evolutionären Stufe der Menschheit. In dem Maße, wie wir Diskurs treiben und unser Spektrum an als gültig gedachten Zusammenhängen erweitern, nähern wir uns einem neuen Bewusstseinszustand an. Bucke nannte es das kosmische Bewusstsein (nach der tierischen Stufe des fehlenden Ich- Bewusstseins und der Selbstwahrnehmung des Menschen). In Anwendung auf die digitale Gesellschaft ergibt das eine brisante Schlussfolgerung. Optische Eindrücke und vor allem die Fähigkeit, diese zu bewerten, sind die Triebfeder der Evolution. Und eigentlich geht es dabei um Sex.

Bilderblogs werden ein natürliches Grundbedürfnis sein. Der unter dem ständigen visuellen Zugeschüttetsein mutierte Mensch ist ohne bunte Bilder nicht mehr lebensfähig. Am Frühstückstisch der Zukunft wird die Frage lauten: Sohn, hattest du heute schon deine Portion regenbogenfarbiger Sinneseindrücke?
Text Paul Solbach

Paul Solbach

Want more stuff like this? Show love below.