Street. Art. Am. Arsch. Es kann nicht viele Begriffe geben, die in den letzten Jahren so durch die Decke gehypt wurden, die so sehr zu Symbol und Synonym für Authentizität, Urbanismus und Rebellion verklärt wurden.
» Die Broken-Window-Theorie wird umgedreht (…) Die Folge ist das böse Gespenst Berlins: Gentrifizierung«
Und mit Sicherheit gibt es noch weniger Bezeichnungen, deren Bedeutung sich derart verkehrt hat, dass selbst die dienstältesten Akteure der Szene den Begriff weit von sich weisen und ihren Namen ums Verrecken nicht in einem Satz mit diesem Stigma hören wollen. Street Art ist tot. Mausetot.
Katrin Klitzke und Christian Schmidt haben verstanden, dass diese Schlussfolgerung haltlos ist, und druckten das Unwort in fetten, weißen Helvetica- Lettern auf das Cover ihres Buches. „Street Art – Legenden zur Strasse“ ist im letzten, in diesen Tagen unendlich fern erscheinenden, Sommer erschienen und beschäftigt sich mit dem Thema auf ernsthaftem wie ernst zu nehmenden Niveau.
Don’t judge a book by its cover: Auf den ersten Blick unterscheidet sich „Legenden zur Straße” nicht von den dutzendfachen Bilderbüchern, die in den letzten Jahren die Modewelle Street Art hauptsächlich geritten sind, um ihren Verlegern Geld in die Taschen zu spülen. Wer den Buchdeckel öffnet findet jedoch tatsächlich ein „publizistisches Kaleidoskop“, wie die Herausgeber es in ihrem Vorwort beschreiben, und zwar ein ziemlich überraschendes.
Das Konzept ist die riskante Begegnung von Kunst und Wissenschaft. Kunsthistoriker, Soziologen, Geographen, Ethnologen und Philosophen analysieren in seitenlangen Essays die Kunstrichtung Street Art, belegen ihre Aussagen penibel mit Querverweisen zu wissenschaftlicher Literatur und kanonisieren die oft belächelte Street Art damit letztendlich in den Stand eines kulturhistorischen Forschungsobjekts. Das fördert mal mehr, mal weniger, neue Erkenntnisse zu Tage, fühlt sich oft an wie eine späte Genugtuung, und wirkt gleichzeitig stellenweise so verkopft, dass man sich beim gemurmelten Widerspruch ertappt. Dennoch, das ist das Neue, das Innovative, an „Street Art – Legenden zur Straße“: Die ehrliche, niveauvolle und längst überfällige Auseinandersetzung mit dem ersten globalen Kulturphänomen des 21. Jahrhunderts. Der, vom Berliner Künstler Pisa73 in unserer letzten Ausgabe kritisierten, Wir-sind-jung-und- witzig-Attitüde, stellen die Essays Tiefe, Reflektion und Einordnung entgegen. Sie setzen die vermeintlich belanglosen Sticker, Stencils und Poster in Kontext und Relation zu vergangenen Kunstbewegungen, zu Globalisierung und Gentrifizierung. Damit hebt sich das Buch von anderen Publikationen zum Thema ab; es erweist der Street Art einen Dienst, statt sich an ihr zu bereichern.
Besonders klar wird das im Essay von Christian Schmidt, dem letzten Aufsatz des Buches. Der Historiker analysiert den wohl relevantesten Aspekt von Street Art, nämlich die Frage nach dem subversiven Element, das dem Bekleben und Besprühen fremder Leute Eigentum zu Grunde liegt. Auch er konstatiert viel Offensichtliches, aber Christian Schmidt kriegt die Kurve zu einer Interpretation, die wohl nur mit wissenschaftlicher Perspektive ersichtlich wird: Der Kapitalismus instrumentalisiert den visuellen Protest der Street Art, in dem er ihn zur ästhetischen Romantik verklärt; Street Art wird hoffähig. Die viel zitierte Broken-Window-Theorie wird damit einfach umgedreht, wenn die Präsenz von Street Art einen Stadtteil hip macht und damit seine Attraktivität für die „Creative Class“, wie Schmidt sie in Bezug auf Richard Florida nennt, steigert. Die Folge ist das böse Gespenst Berlins: Gentrifizierung. Street Art wird somit ungewollt zum Steigbügelhalter ihres eigenen Feindbildes.
Durch diese Analyse gibt Schmidt seinem Forschungsgegenstand einen neuen Impuls, denn er liefert am Ende seines Essays einen möglichen Ausweg: „Diese Zeichen der Zeit dialektisch zu deuten, also im Widerspruch und in seiner Widersprüchlichkeit zu denken, ist eine Grundvorausetzung dafür, dass Street Art auch weiterhin kritisch und interventionistisch wirken kann.“ Street Art ist tot, es lebe die Street Art.
» Street Art ist tot, es lebe die Street Art«
Wäre es bei einer Sammlung akademischer Texte geblieben, hätte das Buch genauso gut im Reclam Verlag veröffentlicht werden können. Aber „Street Art – Legenden zur Straße“ hat noch einige weitere Seiten, deren Inhalt von Künstlern gestaltet wurde. Die Protagonisten sind die üblichen Verdächtigen der urbanen Berliner Kunstszene, Tower und Bronco und Evol und Gould und Boxi sind alle vertreten. Das ist kein kreativer Inzest; jeder Künstler rechtfertigt seine Erwähnung durch die Qualität der abgedruckten Arbeiten.
Broncos Text „Street Art: Das Musical“ etwa hinterlässt den Leser mit einer Mischung aus sprachloser Bewunderung und latentem Minderwertigkeitskomplex. Evol zeigt mit den Fotos seiner „Spurensuche“ einen Begriff von „Street Art“, der nichts mit Schablonen oder Kleister zu tun hat. Und Klub7 führt detailliert durch den Entstehungsprozess eines Paste-Ups, von der ersten Idee, über die Konzeption, bis hin zum fertigen Bild an der Wand.
Diese Mischung aus wissenschaftlichen Aufsätzen und künstlerischen Arbeiten lockert das Buch enorm auf, vor allem, weil die direkte Nachbarschaft von Schwere und Leichtigkeit so bizarr wirkt.
»Ein Reiseführer, der eine Legende vorschlägt, die je- der auf seine eigene Stadt- karte übertragen kann«
Der Kontrast zwischen Wissenschaftlern und Künstlern wird vor allem bei den Selbstbeschreibungen im Impressum in all seiner Cartoonhaftigkeit deutlich: Hier stehen die wissenschaftlichen Lebensläufe der Akademiker, Seite an Seite mit dem subversivem Klamauk der Street Artists.
„Street Art – Legenden zur Straße“ ist kein Coffee Table Book geworden. Die Herausgeber haben sich ihre Sache nicht leicht gemacht und nicht einfach ein weiteres, hübsches wie hohles, Street Art Buch produziert, das die obligatorische Street Credibility in ach- so-hippe Bücherregale bringen soll. Stattdessen ist ein Stichwortgeber entstanden, für Menschen, die sich ihre eigenen Gedanken über ihre alltägli- che Umwelt machen. Ein Reiseführer, der eine Legende vorschlägt, die jeder auf seine eigene Stadtkarte übertragen kann. Eine Legende zur Straße.
Street Art – Legenden zur Straße
Von Katrin Klitzke und Christian Schmidt (Hrsg.)
225 Seiten, 28,00 Euro
Archiv der Jugendkulturen Verlag, Berlin
ISBN 978–3–94021–344–0
streetartlegenden.blogspot.com
Text Lukas Kampfmann
Fotos Heinicke, Kowalski
Lukas Kampfmann
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