Die gute Nachricht zuerst. Von jetzt an wird es nur besser. Mehr Licht, mehr Sonne, mehr Wärme. Ein neuer Arbeitsvertrag, ein neues Leben mit mehr Geld. Die dunkle Jahreszeit ist wieder einmal fast überstanden und wieder einmal war ich die ganze Zeit in Berlin. Es ist mir ein Rätsel, wie ich mir das nun schon vier Jahre in Folge antun konnte. Wenn die ganze Stadt gefriert, alles tot und unbelebt scheint. Wenn man sogar, nach heißer durchtanzter Clubnacht, morgens von der grausamen Realität von -10 Grad empfangen und runtergeholt wird. Eisplatten auf dem Heimweg einen mehrfach ins straucheln bringen, obwohl man auch ohne das Eis schon größte Mühe hat nicht hinzufallen. Man sieht flüchtig in den Spiegel, dann aus dem Fenster, schon wieder hell, bist du nicht langsam zu alt, um so nach Hause zu kommen?
Es waren wilde und arbeitsintensive Zeiten, diese ersten Wochen des neuen Jahres − Jahrzehnts. Der Modecircus machte Station im Eis und Schnee gezuckerten Berlin. Die Partys, als Showbeilage, waren voll von Menschen auf der Suche nach ihrer eigenen Wichtigkeit. Das eigene Universum exibitionistisch nach außen gedreht, auf der Suche nach einem Sitzplatz zum verweilen. Nur wer auf vier Aftershowpartys pro Abend eingeladen ist, sie alle mitgenommen hat und am nächsten Tag trotzdem um 11:00 Uhr in die Gänge des Modeflughafens Tempelhof drängt und bei Kaffee Businesstalk hält, war mittendrin dabei. Nach drei Tagen und noch längeren Nächten ist das Credo allerdings eher: Total durch, statt nur dabei. Gefühlte 5 Jahre älter, aber glücklich, kehrt man nach dem letzten Abend des Trubels nach Hause zurück. Man steigt in die dampfende Badewanne und wie nach manchem Wochende im Clubexil früher ist man angefüllt mit einer Flut von Bildern, Menschen, Begegnungen und Ideen.
Der Körper und Rücken schmerzen, doch das warme Wasser lässt alle Muskeln locker werden. Man hängt dem erlebten nach und fragt sich: „Ist das jetzt ganz unbemerkt zu meinem neuen Feiern geworden? Werden wir alle alt? Können wir das ewig so weitermachen?“ All das sind Fragen, die im wabernden Nebel des Badezimmers aufblitzen, wenn man seine Party um der Party willen Zeiten hinter sich lässt. Als Partys noch eine reine Freizeitbeschäftigung waren, gab es oft den running Gag: „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“. Damals war man zwar freier, aber auch ärmer und das bezieht sich nicht nur auf Geld. Man war wie von einem Instinkt getrieben, auf der Suche am nächsten Wochenende, die noch bessere Party zu finden. Wenn man aber nur mit ausgeglichenem Life-Work Balance leben kann, musste eine Veränderung her, die aber so schleichend langsam fortschritt, dass ich es fast gar nicht bemerkt habe. Plötzlich sind wir nicht nur Feierfreunde, sondern Geschäfts- partner, plötzlich ist die buchstäbliche Schnapsidee von gestern Abend an der Bar der neue Claim von morgen. Manches hört sich aber nach wie vor am nächsten Tag nur dumm an. Nicht nur an den Plattentellern wird nun gepitcht. Dieses neue Selbstverständnis ist zu groß, um es nur mit dem Faktor des biologischen Alterns zu erklären. Vielmehr ist es die persönliche Reifung und der unumkehrbare Lernprozess, der damit verbunden ist, der uns den Kompromiss am Ende gut finden lässt. Wir sind endgültig in der Postmoderne des Erwachsenseins angekommen, Leben und Arbeit verschmelzen. Dabei fühlen wir keinen Verzicht, der bewusste Verzicht ist vielmehr unser avantgardistischer Chic geworden?
Alles was einmal mit Genuß verbunden war ist verpöhnt, aber trotzdem war all dies in diesen ersten Wochen der Zehner Jahre allgegenwärtig. Wir genießen die Nicht-Befriedigung unserer Bedürfnisse aus eigenem Antrieb und es ist nur Ausdruck eines übersatten Dauergeräusches in den Gehörgängen unserer Seelen. Wenn dem so ist, warum kann ich den Winter dann nicht einfach schön finden und nicht jedes Jahr aufs neue die Energie aufbringen ihn und seine totbringende Kälte zu hassen. Wobei ich glaube, dass Menschen, die sich über das Wetter ärgern, einfach keine echten Probleme haben. Jetzt wo es nur noch wenige Tage sind, bevor Berlin wieder seine einzigartige Schönheit zeigt, sich in eine ganz andere Stadt verwandelt, den Eispanzer abwirft, wir schon T-shirts für die ärmellose Zeit rauskramen und uns mit neuen eindecken. Jetzt, wo der tauende Schnee den Böllerdreck von Silvester freigibt, wo erste Stühle vor die Kaffees wandern und jeder nur auf den ersten warmen Sonntag wartet, sind die letzten paar Wochen rückblickend viel leichter zu ertragen. Trotzdem bleibt für mich der Entschluss nächsten Winter eine Berlinausszeit zu nehmen, wahrscheinlich Brasilien.
Jeder möchte dabei sein und der Erste sein, wenn bald der erste Generator im Park anspringt und eine versprengte Restmasse des Wochenendes zum Wippen bringt. Das Leben in dieser Stadt wird wieder neu entfacht und die Flamme der 24/7 draußen Kultur wird brennen bis sich das Totentuch des Herbstes über die Häuser, Bäume und öffentlichen Grünanlagen senkt. Dieses ständige drinnen sein beschränkt auch wirklich den Horizont, von meinem Vitamin D Spiegel ganz zu schweigen. Die sonntägliche Technowelt im Grünen bedeutet, erstmal ist die schönste Zeit des Jahres angesagt, der Frühling mit seinen neuen Gefühlen und dem Grün, das diese Stadt erst lebenswert erscheinen lässt.
Es wird nicht nur ein Schritt in ein neues Jahrzehnt, ich komme wie so oft im Leben mal wieder an dem Punkt an, an dem es Entscheidungen zu treffen gilt und eine davon war es, keine Vorwandpartys mehr zu besuchen. Es muss schon ein bisschen mehr als the usual suspects geboten sein, um mich mal vor die Tür zu locken, dann sollte es aber immer mit dem Freiheitsgefühl einher gehen, am nächsten Tag nichts großes tun zu müssen. Die Arbeit muss getan sein, damit ich auf einer Party arbeiten kann. Dabei gab es auch bei mir mal eine Zeit in der ich es für schrecklich kommerziell hielt mit Partys Geld verdienen zu wollen. Aber es ist nicht kommerziell, es ist die logische Schlußfolgerung, denn nur so kann man wohl diesen schweren Spagat zwischen dem Bürouniversum und dem Dancfloornebel dauerhaft bestehen. Und ein Leben ganz ohne diese schöne Paralellwelt ist für mich nicht vorstellbar. Es sind Menschen, wie du und ich, die auf nichts verzichten wollen, aber trotzdem bereit sind ihre Auszeitwelt ein wenig den ökonomisch notwenigen Grundlagen anzupassen.
Und wer kein DJ oder Veranstalter wird, der muss andere Wege gehen. Es sind diese Momente im Leben, dieser Sonnenstrahl, der dein Gesicht trifft, der dein Lächeln zaubert und dich denken lässt: „Ich bin so glücklich, genau jetzt, genau hier zu sein“. Das Kribbeln des Frühlings im Bauch, der mich auch im sechsten Jahr Berlin immer noch nicht meine Entscheidung für diese Stadt bereuen lässt. Das Leben wird von einen auf den anderen Moment wieder leicht und frei. Das Frostkorsett, in dem unser aller Lebenstil gefangen schien, ist weg und es ergießt sich eine umso stärker zu Tage tretende Lust auf das Leben. Ich bin an diesem Ort der Welt, da will ich sein, hier mach ich genau das, was mein ganz eigenes Ding ist. Es geht darum, es allen Restdeutschen und der Welt, vor allem aber sich selbst zu beweisen, dass es anders geht. Dass unsere Lebensweise, ohne schon um acht Uhr morgens im Büro zu sitzen, ökonomisch überlebensfähig ist, weil man manchmal eben um acht noch da ist. Dass wir nicht nur „arm und sexy“, sondern dabei auch erfolgreich sind. Dass wir zwar älter werden, aber im Kopf immer jung bleiben werden. Dass unser inneres Kind sogar das ist, was uns antreibt auf unserem Weg, einfach ewig so weiterzumachen.
Es gab in den 6 Jahren Beziehung zu dieser Stadt einige Wendungen in meinem Leben, die nicht alle positiv waren, aber die Gewissheit, dass es zu den meisten ohne meinen Umzug in diese Stadt nicht gekommen wäre, lässt mich alle genießen. Die Stadt hat sich sehr verändert, auch nicht nur zum Guten, aber die Gewissheit, dass ich genau diese ständige Veränderung brauche, lässt mir auch dabei alle als gut erscheinen.
Viele neue Menschen kamen und gingen in meinem Umfeld, doch keinen möchte ich missen. Es gibt da vielleicht doch jemanden, aber das ist eine andere Geschichte. Mit Frühling im Herzen sieht eben alles anderes aus. Es ist ein Netzwerk entstanden, fernab von Web 2.0 Plattformen, auch wenn sie sich natürlich auch darin abbilden lassen. Aber es ist kein Geschäftsnetzwerk, auch wenn sich dieses unvermeidlich zu verbinden scheint, aber genau das ist es, was diese Stadt auszeichnet. Es ist nicht nötig sich im Kempinski zum Geschäftsessen zu treffen, wenn man die wichtigsten Punkte schon bei Jägi an der Bar, oder auf dem Dancfloor klären konnte und der Rest am Montag per mail kommt.
Während die digitale Boheme tagsüber beim Latte im Kaffee sitzt, ist der digitale Clochard gerade in einer dunklen Ecke eines Clubs mit einer hübschen Brünetten im Brautkleid mit Neonleggins beschäftigt. Es ist die Selbstverwirklichung, nicht deren Außendarstellung, die ihn antreibt, Konventionen zu verachten. Man braucht keinen roten Irokesen, um die Gesetzte der alten Ökonomie lügen zu strafen. „Symbole sind Silber, Outcome ist Gold“. Auch wenn beim Netzindianerhäuptling wohl beides stimmt.
Wir sind eine Generation, die sich nirgends zu Hause fühlt, es aber überall ist. Mobilität gerne, aber eine Wohnung außerhalb Berlins? Selbst der S-Bahnring ist für viele schon die Grenze zur kon- vetionellen Gesellschaft, aus der viele von uns einst hierher geflohen sind. Zum Glück ist unsere Zuflucht offen für Zuzug. Sicher, auch wenn bei solchen Aussagen der ganze schon seit Jahren schwelende Diskurs Urberliner vs. Neuberliner mitschwingt, verlasse ich mich doch auf die fast grenzenlos erscheinende Toleranz dieser Stadt. Dieses „anything goes“ ist die Quintessenz, die wir hier gefunden haben.
Der Minimalkompromiss, der aber viel mehr als nur Minimal hört. Auch wenn das Wort „Minimal“ auf Grund seiner inflationären Verwendung im Szenediskurs der letzten Jahre schon fast ein „no go“ ist. In einer Stadt zu leben in der sich der Straßenbahnfahrer, wenn er an der Haltestelle vorbeifährt, durch die Sprechanlage mit „Tschuldigung war spät gestern“ entschuldigt, kann nerven, aber für mich, und viele andere, ist es das Salz in der Suppe. Natürlich hat auch mich die BVG schon etliche Tage der 6 Jahre an Haltestellen warten lassen, aber wenn ich immer pünklich sein wollte, oder müsste, wäre ich nach München gezogen.
Auch die BZ-Meldung des Jahres S-Bahn Chaos kann einen echten Berliner, und um das zu sein muss man nicht hier geboren werden, nicht schockieren. Wer sich über sowas ärgert versaut sich doch nur den Tag und wartet missmutig auf die, natürlich trotzdem verspätete, Bahn. Obwohl auch 2 Minten auf eine U- Bahn warten bei manchen Empörung auslöst, versuche ich solche Momente immer mit der Frage „Wen hast du lange nichtmehr angerufen“ zu beantworten. Diese hat zur Folge, dass ich regelmäßig in U-Bahnen telefoniere, inklusive böser, oder amüsierter, Blicke von Sitznachbarn, aber wenn Bier trinken in der Bahn ok ist, wer wird einem das Telefonieren verbieten? In anderen Städten denkt man über ein generelles Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen nach, in Berlin kullern Sonntag morgen leere Flaschen durch die Bahn.
Hier ist ja auch ein Rauchverbot, außer in unserer Redaktion, scheinbar kaum durchsetztbar. In einschlägigen, bekannten und Groove zitierten Internetforen wird schon der Ausverkauf des Fusion Fes- tivals bedauert, aber auch das versetzt uns nicht in Panik. Während die Schwarzmarktpreise für eben jene Karten schon Richtung 100€ tendieren, bleibt der Berliner pragmatisch und resümiert. 53.000 Karten im VV, da ist noch einige Luft nach oben. Die eigentliche Frage ist doch, was an diesem Sommerwochenende passieren wird, wenn einfach 80000 Menschen dort in der Müritz auftauchen, extasewillig und hungrig. Stacheldraht auf der Fusion würde doch irgendwie nicht zum Spirit der Veranstaltung passen. Vielleicht sollten sich die Veranstalter mal mit den Veranstaltern des Woodstock Festivals 1968 kurzschließen, die hatten auch etwas kleiner geplant. Doch alle Schranken öffneten sich der faktischen Macht einer unglaublichen Menge an Menschen, die einfach trotzdem angereist waren. Das Ergebnis war ein vom Sound und der sanitären Situtaion her absolut unzumutbares, aber dennoch legendäres Ereignis. Denn kann eine Fusion als exklusives Spektakel funktionieren?
A propos exklusiver Zutritt, die 25 geht 2010 mal wieder in die Verlängerung, und ob Sommer oder Winter ist dort schon längst so egal, wie Montag oder Dienstag. Also werden sich auch diesen Sommer dort am Spreeufer wieder Hinz und Kunz die Turntables übergeben und ein endloser Reigen von Geklapper diesen Spreeabschnitt beschallen. Und bitte diesen Sommer keine Diskussionen über Feierspanier, die suchen das, was wir vor der Haustüre haben, darüber sollte man sich freuen und nicht aufregen. Außerdem sind es gerade diese oft gescholtenen Touristenraver, denen Tobias Rapp ja sogar ein ganzes Buch gewidmet hat, die viel Geld in unser Hartz-4-Paradies bringen und so dafür sorgen, dass ein großer Teil einer unabhängigen Randökonomie exstieren kann.
Es war eine unzählbare Anzahl an Begegnungen und offenen Gesprächen, mit teilweise fast unbekannten Menschen. Ob mit oder ohne Sprachbarriere. Trotzdem hat gerade der Partykontext oft zu einer Offenheit geführt, die verletzlich macht, aber Vertrauen auf einer ganz anderen Ebene verleiht. Credability ist wichtiger als Platitüden, trustability wichtiger als Seriösität, auch wenn es ohne die nicht geht. Aber im richtigen Moment die Macken fallen zu lassen ist eine große Kunst. Eine Telefonummer kann riesige Unterschiede machen, oft ist sie eine größere Zugangsberechtigung, als eine Clubmarke. Eine Platinkarte ist zwar schön, aber ein lächeln im richtigen Moment unbezahlbar.
Schön, dass dank zunehmender Sonneneintrahlung auch das Lächeln auf unseren Straßen wieder mehr werden wird. Viele Hoffnungen und Träume hat das letzte Jahr begraben und trotzdem geht es mit neuen weiter. Es ist eben die einfach Erkenntnis, dass nichts sicher ist, niemals, außer die sichere Wiederkehr der Jahreszeiten.
Text Benjamin Gruber
Benjamin Gruber
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