Von der Wichtigkeit des Langsamen
Eine der klassischen Flaniermeilen in Kreuzberg 36 ist der Bouleplatz am Landwehrkanal. Ein gutes Duzend Bänke zieren die fünf Bouleplätze, die zwischen zwei Fußgängerwegen liegen. Direkt am Ufer gibt es zusätzlich eine kleine, schmale Grünfläche, die jedoch von Kötern gerne zugeschissen wird. Wer sich dennoch an sonnigen Tagen dorthin legt und die südwestliche Ausrichtung genießen möchte, kann von den Stadtrundfahrtsschiffen hören, wie den ahnungslosen Touristen der Platz als „Knall“ verkauft wird. Das würde wohl nahe liegen, da das Knallen der Boulekugeln die Szenemenschen zu solchem Namen inspirieren würde. So ein Quatsch! Wir Szenemenschen liegen dicht in der Sonne und kämen gar nicht auf so eine ausgeklügelte Idee.
Es ist schon richtig, der Bouleplatz ist ein Kreuzberger Hotspot. Wer hier sitzt möchte sehen und gesehen werden. Der kleine Ku’damm am Kanal. Wie Magneten heften sich die Blicke an alle Passanten, die hier durch müssen. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zu den einschlägigen Cafés in Mitte, in denen man so brav seinen neuen Ist-doch-gar-kein-Palischal vorführt und am Telefon herumspielt. Hier sind es die Metallkugeln, die einen ähnlichen Wischreiz und eine beschäftig-wichtige Miene auslösen.
Boule Lyonnaise ist ein langsamer Sport, bei dem die Mitspieler versuchen, möglichst nahe ihre eigene Kugel an eine Zielmurmel heran zu werfen. Das könnte durchaus seinen Reiz haben, denn viele erinnern sich dabei an den Strandurlaub mit den Eltern als das Spiel noch Boccia hieß und statt Metallkugeln bunte mit Sand gefüllte Plastikkugeln durch die Luft schossen. Übrigens stehen die Namen Boule, Boccia, Pétanque und Bowls für unterschiedliche Spielarten, aber – verschont von diesem Nerdtum – kann man getrost alles über einen Kamm scheren. Das ärgert zwar eingefleischte Spieler aber sonst stört es niemanden. Das Spiel ist ohnehin ein Hort für männliche Wissenschaften. Je sparsamer eine Betätigung ausfällt, desto mehr Brimborium muss darum gemacht werden. Wer etwas aus sich hält, putzt deshalb nach jeder Runde mit einem kleinen Tuch seine Metallkugeln sauber. Der Wurf derselben muss möglichst umständlich aussehen, sodass man ja nicht auf die Idee kommt, dass das jeder machen könne. Im Grunde muss der Wurf der Kugel möglichst hässlich aussehen, damit du nicht als ewiger Anfänger in der Gemeinde giltst. Wer es genau nimmt, darf dabei auch nicht reden, nur um sich anschließend, am Ende der Runde, in tiefgehende Diskussionen zu vertiefen warum jetzt, was wie. Ernste Blicke bei der Analyse sind obligatorisch um der wissenschaftlichen Erklärung der Wurfparabel Nachdruck zu verleihen. Hier treffen sich die Akademiker um sich mit ihren Händen beweisen zu können. Wer keine universitäre Lehre hinter sich hat, darf Stolz wie Bolle sein, die Erfahrungen aus dem Studium der Wissenschaft, summa cum laude abgeschlossen zu haben.
Es ist kein Vergleich zum Ursprung, was hier versucht wurde aus dem Frankreich-Urlaub vor vier Jahren nach Deutschland zu importieren. Das lockere Spiel der Herren auf den französischen Plätzen, die nonchalant eine ruhige Kugel schieben, findet man hier nur bei einer Gruppe ebenfalls älterer Herren. Die spielen schon seit Jahren hier und machen nicht halb so ein Aufsehen wie die jungen Alternativos. Vielleicht liegt es einfach am Alter. Männer mit hohem Testosterongehalt sollten sich lieber körperlich verausgaben und den Alten das Altherrenspiel überlassen. Das sagt der Name schon. Dennoch wächst die Gemeinde der Boule-Möchtegerns beachtlich und so findet man immer mehr Boulebahnen im Berliner Stadtbild.
Richtig schön wird der Bouleplatz aber erst durch die wundersame Metamorphose nach einem Regen. Wenn hier die Pfützen den Gehweg verdrängen und sich keiner mehr vor streunenden Kindern und Hunden, Fahrradfahrern und Joggern in acht nehmen muss. Dann bekommt der Platz seine tatsächliche Ruhe wieder zurück und lädt zum kurzen Verweilen auf den Lehnen der Bänke ein.
Miron Tenenberg
Miron Tenenberg
Want more stuff like this? Show love below.