Feature: victimize – Stadt der Opfer

von Redaktion


Berlin dismissed – Gedankenprotokoll eines Absturzes auf Zeit

Sasha kommt aus dem Golden State. Nach Jahren erfolgreicher Arbeit hat sie jedoch die Schnauze voll. Der stressige Entwicklerjob ist gut bezahlt, aber ihr Glaube an den Kapitalismus nimmt zunehmend ab. Sie braucht eine Auszeit – in Europa. Kunst machen, Städte sehen, Abenteuer erleben. Ein alter Freund trifft sie durch Zufall in Istanbul und stellt sie mir über eine Community vor, da sie sich in einigen Wochen in Berlin treffen wollen. Über Paris und Amsterdam kommt sie letztendlich her. Es ist Winter. Einer der trostlosen Winter, in denen das allgegenwärtige Grau die Stadt vollzukleistern scheint. Sasha wohnt bei mir auf der Couch. Sie ist Couchsurferin aus Überzeugung.

Im Gepäck hat sie tausend Kunstideen und Projekte, Pilze und Marihuana. Sie kiffe nicht mehr, aber es wäre als Mitbringsel gut geeignet. Da das Wetter draußen zu Depressionen führt, rauchen wir uns in den Sommer. So vergehen die Wochen. Sie trifft keine Künstler, sieht keine Stadt, verliebt sich in meinen alten Freund und versinkt in der Couch, wie im Treibsand.Es nützt nichts, sie muss raus. Sie zieht daher in eine kleine WG um die Ecke; mein alter Freund nach Bulgarien. Mittlerweile habe ich nicht mehr viel mit ihr zu tun. Sie geht nun wohl gerne in die kleine StudiBar und in anderer Männer Betten; beides jeweils in unserem Kiez. Entsprechend schnell weiß ich davon. Der eine Typ schert sich einen Dreck um sie, weil seine Freundin es nicht erfahren soll –  trotzdem kuscheln sie regelmäßig miteinander. Der andere schwängert sie im ehemaligen WG-Zimmer meiner Freundin.

Zufälligerweise wohnt der eben dort – Ahmad, Sohn zweier zum Islam konvertierten Berlinern. Eingehüllt in Decken geistert sie nun durch die Gänge ihrer Wohngemeinschaft und organisiert sich erst nach Ewigkeiten seine Nummer. Weder nimmt er aber ihre Anrufe an, noch meldet er sich auf die erfreuliche SMS. Ihre Europatour ist offensichtlich beendet. Einen Tag bevor Sasha die Stadt verlässt, hat sie die Möglichkeit Ahmad noch in Berlin zu treffen. Das Gespräch läuft unerwartet gut. Dann verschwindet sie. Berlin hat es ihr gegeben, sie hat es sich genommen.

Text: Signore Si Ital

 

Change is good

Es ist nichts alles Gold was glänzt. Wir fragen Nadine wie es so ist, als ganz normales Mädchen zu modeln. Als Teenager lief sie auf vielen Laufstegen und stand bei Fotoshootings im Mittelpunkt. Doch dann kam der Punkt, an dem der Glamour abblätterte und sie merkte nicht, nur ihr Äußeres dafür zu verkaufen.

Hallo Nadine, du bist also Germany‘s Next Topmodel?

Nee, auf keinen Fall! Ich hatte nicht einmal Spaß bei den Jobs. Später gab es richtig Stress mit der Agentur, weil ich etwas zugenommen hatte. Ich wog 55 Kilo und mir ging‘s da wirklich nicht so gut. Irgendwann war es wieder besser und dann kam halt die Ansage, es ginge so nicht. War da auch keine 14 mehr, der man was erzählt und die sich sofort fügen kann. Musste mich dann entscheiden, hab‘s ja auch nicht so mit dem Essen. Aber wenn der Druck von Außen kommt, dass man es machen muss…Das hat mir nicht gut getan. Ich hab dann keine Jobs mehr angenommen und bin dann auch umgezogen. Naja.

Und was war da kurz davor los?

Ich war für einen Workshop in der Türkei. Es gab alles for free und ich durfte nichts essen. Ich war außerdem die älteste da.

Nämlich?

17.

Und die anderen?

So zwischen 14 und 16. Ich glaub 13-Jährige dürfen auch gar nicht für eine Woche im Ausland arbeiten.

Kotzen die Mädels hinter der Bühne?

Die essen doch nie was. Wasser und Alkohol und Koks. Ist schon so, diese Klischees stimmen. Gerade diese ganzen Frisöre und Stylisten… Meine Agentin war die einzige, die mal drauf geachtet hat, dass ihre Mädels gesund blieben. Aber die war auch nicht immer dabei.

Haben die sich sonst für dich interessiert?

Ja, im negativen Sinn. Sie waren sehr hinter her, dass ich an meinem Körper, an meinem Äußerlichen nix verändere ohne Absprache mit der Agentur. Das war voll ätzend. Ich durfte nicht die Haare färben, nicht zum Frisör, nicht braun werden, wenn ich im Sommerurlaub war. Ich musste unterschreiben, dass ich keine Streifen bekomme. Und das zum AbiAbschluss in Ungarn, zehn Tage lang sternhagelblau. In der Sonne habe ich mich an meinen Vertrag erinnert und musste feststellen, dass ich krebsrot war. Zurück gab es erstmal einen fetten Anschiss.

Hat das auch schon so begonnen?

Nein. Die kamen auf mich zu. Ich glaube, das war irgendwann, als ich Deutsch geschwänzt hatte. Ich war in den Schönhauser-Arkaden unterwegs, ein Buch kaufen. Auf einmal tippt es mich an der Schulter an und ich erschreck mich. Da stand die Agenturchefin, die ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht kannte, vor mir. Die meinte sowas, wie „ich laufe dir schon die ganze Zeit hinterher“. Und ich dachte: „Whoar, gruselig.“ Sie fragte, ob ich schon einmal gemodelt hätte. „Nee. Hab ich nicht.“ Dann hat Sie mir Ihre Karte in die Hand gedrückt und mich zum Casting eingeladen. Es war supercool angesprochen zu werden. Ich hatte an dem Tag meine Abiprüfung gemacht und bin abends direkt zum Casting. Die haben damals nur zwei von den 80 Mädels eingeladen.

Du warst eine von den zwei?

Ja, ich war eine von denen. Die Andere war so cool, mit dem Mädel hatte ich so viel Spaß. Dann wurde ich vermessen und hab mir die große Karriere ausgemalt – hatte schon immer Superstarambitionen – bis sich dann halt herausstellte, dass es nur eine kleine Kackagentur war, die es gut gemeint hat.

Oh. Wieviele Castings hattest Du denn so in einer Woche?

Vier, naja, vier sind wenig. Manchmal hatte ich auch schon vier an einem Tag. Die Agentur wird von Kunden angefragt, dass sie so-und-so-viele Mädels bräuchten. Die Agentur schaut daraufhin ihre Kartei durch und ruft dich halt an. Normal eben.

Aber du hast doch als junges Mädchen ganz gut verdient?

Naja, also so viel war es ja nicht. Es gibt da ganz andere Budgets, – die gehen hoch bis zu 50.000 Euro.

 

Thornedom

Zoe Thorne macht klare Ansagen. Vielleicht hat man das nach 14 Jahren als Tätowiererin einfach drauf. Für ihre neue Mappe stellt sie Regeln auf: Pro Person ein Polaroidfilm, also zehn Fotos. Das ganze darf maximal eine Stunde dauern, inklusive Setup. Ergebnis ist eine anschauliche Akte potenzieller Todesfälle. Jedes Opfer erhält eigene Tatort-Fotos und ein Protokoll, auf dem der, oft skurrile Todeshergang aufgezeichnet ist. Die Idee und Umsetzung sind so gut, dass es dazu auch eine eigene Ausstellung gibt: Zu sehen sind die Victims of Zoe Thorne vom 2.-28. Februar bei Bis aufs Messer, Marchlewskistraße 107 im Friedrichshain. Wer nicht nur ein Bild kaufen will, sondern gleich ein Bild in der Haut haben möchte, meldet sich bei ihr. Ein Herz mit Zoe-Banderole gibt es für alle kostenlos.

victimsofzoethorne.com

 

Stars and Cries

Wie verkorkst sind wir eigentlich? Wir glauben so lange an die heile Welt, bis die Risse direkt spürbar werden und es zu spät ist, etwas gegen das Unheil zu unternehmen. Andererseits können wir nun wirklich nicht jeden Happen Essen in Wehmut herunterwürgen, nur weil uns bewusst wird, dass wir zu dem Viertel der Bevölkerung zählen, denen es verdammt gut geht. Als Rädchen im System ist das nicht so einfach, den richtigen Weg zu gehen. Als höchst subjektive Wesen noch viel weniger.

In der Galerie Jette Rudolph sind aktuell sieben Künstler zu sehen, die sich aber genau mit dieser Fragestellung beschäftigen. Wir sehen Werke, die sich im Spagat zwischen Wissen und Danach-Handeln auseinandersetzen: Politische Ikonographie II, kurz POIK II.

Jari Silomäkis aus Finnland stolpert zum Beispiel über seine Gefühlswelt, als er ehemalige Kriegsschauplätze besichtigt und sich dort fotografiert. Einerseits sei er nie im Krieg gewesen, wisse nicht, was dieser Zustand mit ihm anrichte, denke aber viel darüber nach. Auch Jari schaut Nachrichten und konsumiert nunmal die Medien, die ihn mit fremden Eindrücken überschütten. Was dabei herauskommt, sind Fotos, die einen hilflosen Umgang mit Orten von Massakern erahnen lässt. Er schreibt naive, teils zynische Texte auf seine Fotos, welche Spuren des menschlichen Abgrundes andeuten. Da werden Einschusslöcher einer Wand zu Sternenbilder, Hügellandschaften zu Guerillaspielplätzen und Hinrichtungsplätze zu  trostlosen Fashionrooms. Zwischen Jette und ihrem Mann, einem bildenden Künstler, bekomme ich ein Gespräch mit, ob Jari denn wirklich Kunst schaffe oder eher soziologische Fragestellungen bearbeitet. Sie diskutieren und natürlich haben beide eine unterschiedliche Meinung.  Natürlich können Sie sich nicht einigen. Sie küssen sich, werfen sich einen verliebten Blick hinterher und gehen ihrer Wege. Sie gluckst mädchenhaft fröhlich, er grinst sich in seinen Rock‘n‘Roll-Bart. Politische Ikonografie kann so deutungsvoll sein.

Als ich nun die Galerie verlassen möchte, ruft mich meine Freundin an. Es kriselt momentan,  und anstatt irgendwas Begrüßendes zu sagen, lese ich ihr den Text von Jana Gunstheimer vor. Es flutscht und nimmt mich mit. Wir beide sind still – eine ganze Weile. Ein toller Text. Wir hätten in unserem zyklischen Pendeln keine besseren Worte finden können. Ich starre auf die schwarzen Lettern auf weißem Grund. Mein Kopf beginnt zu interpretieren und den Sinn zu suchen. Gefangen in der Ambivalenz zwischen dem realen Leben und der Medienwelt hat Jana ein dreiteiliges Kunstwerk erschaffen. Mich interessieren die anderen zwei Teile nicht. Der Zusammenhang verblasst gegenüber meiner Gefühlswelt. Ich werde meine Freundin gleich am Checkpoint Charlie treffen. Bilder von gescheiterten Grenzgängern springen in meinen Kopf. Soldaten, die flüchtende Ostler an den Haaren zurückzerren. Der Freiheitsdrang ist eine starke Emotion, die im Leben an allen Ecken und Enden korrumpiert wird. Mir wird bewusst, was für ein Glück ich habe, die Möglichkeit zur Zufriedenheit zu haben und ich will nun versuchen aktiv daran festzuhalten. Direkt am ehemaligen Grenzübergang wechsle ich jedoch vom Bürgersteig auf die Straße, um absichtlich eine Bettlerin zu umgehen, welche die Touris systematisch abgrast. Politische Ikonografie kann so deutungsvoll sein.Die Austellung ist bis zum 27. Februar in der Galerie Jette Rudolph, Zimmerstraße 90 – 91, 10117 Berlin zu sehen.

jette-rudolph.de

Redaktion

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