Der Platz in mir

von Miron Tenenberg


Der Zaun des Basketballfeldes ragt steil vor mir in den Himmel. Die Wolken dämpfen das Licht, das seine Fähigkeit verloren hat Schatten zu werfen. Ich stehe an der Ecke und schaue von außen durch den Zaun, der eher an einen Käfig erinnert, als an ein Spielfeld. Dahinter stehen meine Kindergartenfreunde, reden miteinander und laufen ein wenig umher. Obwohl wir uns sehen entsteht kein Gespräch. Wir sind getrennt voneinander: sie dort, ich hier.

Vorsichtig schauten wir in jedes Zimmer. Jeder hatte Angst. Wir wussten ja gar nicht, was uns hier erwarten würde. Wir waren ahnungslos als wir seine Wohnung betraten und ihn fanden.

Nein, rückblickend betrachtet bereue ich nichts, obwohl ich es mir nicht immer einfach gemacht habe. Jedes Teil braucht eben seinen Platz. Ich erinnere mich noch, wie alles mit einem Setzkasten meiner Schwester begann. In der pilzartigen Silhouette eines Schlumpfhauses aus dunkelgrünem Plastik wurde seitdem mein Leben widergespiegelt. In den Fächern fand alles Platz, was mich zu der Zeit bewegte: Eine alte Anstecknadel der FDGB meiner Eltern, ein Stein vom Urlaubsstrand, mehrere bunte Plastikautos mit Rückzugsantrieb, eine größere Figur in der Form eines Zahnes, die eine Zahnbürste in der Hand hielt und belehrend den Zeigefinger nach oben streckte. Sie passte gerade eben in eines der größeren Fächer des Kastens. Schnell war jeglicher Platz belegt. Daraufhin schenkte mir meine Schwester noch einen Setzkasten in der selben Form. Die Steine aus dem Urlaub lagerte ich allesamt in ein altes Einmachglas aus. Dieses sollte nach einigen Jahren den kalten Geruch der Freiheit beherbergen. Dafür bekam nun die kaputte Armbanduhr einen Platz. Durch kräftiges Schütteln kam sie für exakt zwölf Sekunden ins Leben zurück. Sie war mein Schatz. Geschützt wurde sie von der spitzen Ledernadel, die ich zwischen Pflastersteinen auf dem Aufgang zu unserem Mietshaus gefunden hatte. Außerdem besaß ich noch eine sardinendosengroße Büchse, die mit Luft aus dem Heiligen Land gefüllt war, zwei Radiergummis, die nie zum Einsatz kamen und ein Pilotenabzeichen von British Airways, mit dem ich in andere Welten flog, ohne mir diese je genau ausgemalt zu haben. Mit dem neuen Setzkasten fand eine Vielzahl an Andenken Platz: Anstecker von Sportveranstaltungen, Straßenfesten und Werbematerial aus dem Betrieb meines Vaters. Unmengen kleinerer und größerer Plastikfiguren waren darin zu finden, wie sie damals begann in alle Kinderzimmer zu schwemmen.

Seine Gastfreundschaft war jedem von uns bekannt. Deshalb waren wir so betreten als wir merkten, dass ihn seit Monaten niemand gesehen hatte und es keinem aufgefallen war. Er war ein Urgestein, das aber nichts mit unserem täglichen Leben zu tun hatte.

Erst unter der Decke des Zusammengehörigkeitsgefühls konnte ich mich wirklich frei fühlen. Im Netz der Regeln und Beziehungen und unter der ständigen Beobachtung fiel es mir leicht, mich zu entfalten. Unterschiedliche Rollen, die ich jedem gegenüber einnahm und bei denen es natürlich auch große Überschneidungen gab, machten mir Spaß. Damit stieß ich schnell an Grenzen. Es war so einfach zu erkennen, was erlaubt war, was die Kinder akzeptieren konnten und bereit waren als normal anzunehmen. Niemand litt körperlich unter mir und auch psychisch habe ich keinen Druck aufgebaut. Einzig übertrat ich ihre Vorstellungen des Normalen und hatte Spaß an der Leere, die mir die anderen Kinder entgegen brachten. So war es mir möglich, in den doch immer gleichen Beziehungen etwas Neues zu erleben. Gleichzeitig war ich so geschickt darin, dass mich keiner als Freak ansah. Es waren Reflektionen ihrer Engstirnigkeit mit denen ich sie erwischte. Mich reizten die überraschten Gesichter, die ausweglosen Augen und leisen Stimmen, wenn ich mich amüsierte. Wie mit einer heißen Nadel sezierte ich ihre Reaktionen, nahm jedes Zucken vor dem Entsetzen und jede Verkrampfung vor dem Zorn wahr. Dafür nahm ich mir Zeit. In diesem festen Konstrukt herrschte für mich eine unaussprechliche Dynamik.

Natürlich bekamen wir mit, dass er im Winter viele Kisten weggeworfen hat. Es war für uns nicht zu übersehen, aber niemand fragte ihn jemals, was er eigentlich wegwerfen würde. Erst als wir langsam durch seine Wohnung gingen sahen wir die Leere, die sich in seiner Wohnung ausgebreitet hatte. Lediglich die Schatten der Möbel zeugten von seinem Leben, so wir wir es kannten.

Der Abschied aus der Jugendfreizeit fiel mir schwer. Sogar Monate später konnte ich mir das einzige Foto, welches mir geblieben ist, nicht anschauen. Ein Gruppenfoto von über hundert Kindern und einem guten Duzend jugendlicher Erzieher. Ich stand in der letzten Reihe von wo aus nur meine Augen zu sehen waren. Man konnte mich nicht erkennen. Wie eine Spinne in ihrem Netz bewegte ich mich durch die vorgegebenen Konventionen. Das plötzliche Fehlen dieser machte mich kaputt. Langsam fraß mich die Sehnsucht auf und nahm mir das Gehör. Die Lieder entstimmten sich, die warmen Geräusche sommerlicher Reichweite versteinerten beim Blick über die Schulter. Der Raum wurde preisgegeben und die Leere erfüllte nunmehr meine Ohren. Dennoch nahm mein Leben seit diesem Moment nicht ab. Es wurde mit der Zeit sogar dichter und auch mein Vertrauen erstarkte wieder. Trotz meiner Taubheit konnte ich meine Umgebung deutlich wahrnehmen. Ich hörte zwar niemanden, kein Geflüster und Geschrei, kein Gelächter und Gewimmer, aber ich spürte, was um mich herum geschah. Die Fähigkeit, mich mit anderen Leuten zu unterhalten, wurde mir dadurch nicht genommen. Lediglich elektronische Geräuschquellen blieben mir verborgen – und kalte Menschen. Das machte mir Probleme, weil ich dann keinen Anhaltspunkt mehr hatte. Die meisten Menschen, sogar Freunde, mussten sich erst daran gewöhnen.

Unerwartet erblicke ich eine Gruppe Menschen durch die dicke Glasscheibe des Nachttierhauses. Im gedimmten, ingwerfarbenen Licht wirken sie wie aus Gold gegossen. Ich mustere sie ausgiebig, schaue mir ihre sanften Gesichtszüge an und fühle mich sofort mit ihnen verbunden. Ich fühle mich ihnen zugehörig, obwohl uns die unüberwindbare Scheibe trennt. Mir laufen die Tränen von der Wange. Mein menschliches Dasein erschüttert mich diesseits des Glases und lässt mich auch in den kommenden Tagen nicht los.

Trotz meines fehlenden Gehörs bewegte ich mich viel unter Freunden und war äußerst sozial. Dennoch kehrte sich mein Leben unbemerkt nach innen. Der Setzkasten wurde zur Lebensaufgabe und erfüllte jeden Winkel der Wohnung. Alles wurde eingesetzt. Jeder Augenblick und jede Erfahrung fand sich in den Winkeln der Wohnung wider. Die Nachbarzwillinge mit den rotzigen Nasen waren dort ebenso zu finden wie die Scheidung meiner Eltern. Auch den Kletterbaum, den ich in einer Anwandlung an Übermut entrindete, was mir später furchtbar leid tat, habe ich dort platziert. Kerzenstümpfe und bunte Schnüre – rote, blaue, grüne und pinkfarbenes Geschenkband – stopfte ich in die unteren Abteilungen, gleich neben den stumpfen Messern, verschrumpelten Kastanien und die Affären meiner Exfreundin. Der Umbau des Kindergartens wurde auf Kniehöhe mit den restlichen Kindergartenerinnerungen platziert. Meine erste Zigarette war ebenso wichtig wie der lange Weg, den ich alleine von Queens nach Brooklyn lief und kurz vor dem Ziel fast kollabierte. Die Suppe, die ich nie zum Krankenbett brachte war im Flur zu finden, der Streit mit meiner Mutter über dem Kühlschrank. Aber auf Augenhöhe konstruierte ich mich selber. Jedes Fach mit meinen eigenen Fingernägeln und Rülpsen, Spiegelbildern und Rebellionen. Scheiße.

Ruhig wachte ich auf. Mein dunkles Zimmer reflektierte das fahle Licht der Nachtlampe im Korridor. Vom Schreibtisch neben dem Fenster, hinüber zur Tür und zurück auf den Schrank, der hinter meinen Füßen beginnt: Mein Blick über die Schatten bestätigte den Frieden, den die Nacht verströmte. Leise trat der Ruf nach meiner Mutter aus meinem Mund die schmale Wendeltreppe hinunter; hinunter in das Wohnzimmer. Dort starb meine Familie.

Jeder Winkel der Wohnung wirkte wie frisch ausgeräumt. Ein paar Wollmäuse in den Ecken bezeugten die Geschichten, die wir hier alle erlebt haben. Kein Raum war uns jemals fremd geblieben, überall haben wir schon geraucht und gegessen, unsere Leben besprochen und Pläne geschmiedet. Eigentlich wohnten wir selber in seiner Wohnung.

Der Setzkasten lebte. Er wuchs und vergrößerte sich mittlerweile selbständig. Seine Fächer verdoppelten sich – genau wie sein Inhalt. Jeder Geschmack und jede Urlaubskarte war nun in zweifacher Ausführung vorzufinden. Den Blick auf den Eiffelturm besaß ich aus unterschiedlichen Perspektiven, Bastelpapier hatte ich in allen erdenklichen Farben. Ich atmete Holzkugeln und Quasten, Rotwild und Angelruten mit Kästen voller Senkblei. Wollte ich nicht bei den anderen sein? Habe ich mich nicht draußen verabredet? Mein Telefon vibrierte, aber der Setzkasten schluckte meine Bewegung. Sie wurde sofort neben den anderen Griffen und Winken platziert. Ich atmete das Telefon ein und spuckte mein erstes Auto aus, das ich in einem Auffahrunfall in Lankwitz kaputt fuhr. Ich hustete alle Kinderkrankheiten aus und sog beim nächsten Atemzug die Geschirrberge meiner ersten Wohnung in meine Lungen. Draußen tobte das Leben und ich war in meiner Wohnung eingeschlossen. Eingesperrt und hungrig, weil der Weg zum Kühlschrank durch meinen ersten Schwarm und seine Familie zwischen Sperrmüll und dem Tod meiner Großväter versperrt war.

Nichts erinnerte uns an ihn. Nichts war mehr da. Nur das ungewöhnlich helle Licht, welches durch die geöffnete Tür auf den Flur schien, deutete auf Leben hin.

Der Hunger brachte mich um. Jeder Versuch etwas bereits Gegessenes in meinen Mund zu führen endete damit, dass es sich in den Umzügen und Familienzwisten vor meinen Lippen verhakte. Ich kaute auf den Klassenfotos und lutschte an Spraycaps. Mein Setzkasten brachte mich um.

Mitten im gleißenden Licht, dass uns von allen Schatten befreite, konnten wir seine Konturen erkennen. Wir wurden geblendet und waren von der Ansicht gebannt. Er saß mit dem Rücken zu uns und sein Körper vergrößerte sich mit jedem Atemzug in alle Richtungen. Er atmete langsam und ruhig. Jede Pore schien mit Licht gefüllt. Es tat in den Augen weh und je länger wir auf ihn schauten, desto weniger erkannten wir. Wir spürten ihn: wir hier, er dort.

Miron Tenenberg

Grafik Vinzent Britz

Miron Tenenberg

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